Die Logistik geht gestärkt aus der Krise hervor

Die Corona-Pandemie hat unseren privaten und beruflichen Alltag durcheinandergewirbelt – das gilt auch und besonders bei Entscheidern und Experten in den Wirtschaftsbereichen Supply Chain-Management und Logistik. Ihnen ist es gelungen, trotz aller Einschränkungen die meisten Versorgungsketten intakt zu halten, sowohl die der Industrieproduktion als auch die der Versorgung der Bevölkerung. Lebensmittel und andere Waren des täglichen Bedarfs waren immer hinreichend verfügbar.

Gastbeitrag: Prof. Dr.-Ing. Thomas Wimmer, Vorsitzender des Vorstands, Bundesvereinigung Logistik (BVL) Deutschland e.V.

Die Ausnahmesituation seit März 2020 hat folglich sichtbar gemacht, wie wichtig Supply Chain-Management und Logistik sind, um unser gesellschaftliches und wirtschaftliches System in Funktion zu halten. Die Krise war und ist für eine große Chance für einen Wirtschaftsbereich, der in der Regel im Schatten von Industrie und Handel steht. Logistik hat sich emanzipiert, wird endlich als systemrelevant wahrgenommen und hat heute einen höheren Stellenwert.

Gleichzeitig wurde deutlich, worauf es in Wertschöpfungsketten heute und in Zukunft ankommt, und wo die Schwächen der Systeme und Supply Chains liegen – zumindest unter der außergewöhnlichen Belastung in einer krisenhaften Situation. Prognosesysteme versagen bei extremen Bedarfsschwankungen, Wertschöpfungsketten reißen ab, weil Grenzen geschlossen werden oder es unterschiedliche, zum Teil widersprüchliche Regelungen in benachbarten Regionen gibt. Oder weil Leergut fehlt – oder Container. Produktionslinien müssen heruntergefahren werden, weil Halbleiter weltweit knapp werden – ebenso wie Kunststoffgranulate, Spezialstähle und Holz. Das sind alles indirekte Folgen geänderter Bedarfe in Lockdown-Zeiten.

Der Wirtschaftsbereich Logistik ist im Schnitt mit geringeren Umsatzeinbrüchen durch die Krise gekommen als andere Bereiche. Mengenvolumina sind zurückgegangen und logistische Schwerpunktaktivitäten haben sich verlagert, aber überwiegend war eine Kontinuität des Geschäfts gewährleistet. Zum Teil erlebten wir sogar eine starke Arbeitsverdichtung beispielsweise nach Hamsterkäufen, Nachfragepeaks wie bei Masken oder Homeoffice-Equipment sowie im KEP-Bereich. Wenn die Phase der Lockdowns mit all ihren Beschränkungen zu Ende geht, wird die Wirtschaft durchstarten, es wird Nachholeffekte bei Investitionen und Konsum geben und der Wirtschaftsbereich Logistik wird in Kürze richtig viel Arbeit bekommen. Der Logistik-Indikator der BVL für das zweite Quartal 2021 zeigt großen Optimismus für eine positive Konjunkturentwicklung.

Die Pandemie hat viele Veränderungen beschleunigt, die sowieso angestanden hätten. Unternehmen und Mitarbeiter sind in der Krise agiler geworden. Das ist im Sinne der Zukunftssicherung von großer Bedeutung. Resilienz, Transparenz und Flexibilität sind gefragt. Digitalisierung und neue Technologien geben uns dafür Werkzeuge an die Hand, die gepaart mit neuen Denk- und Arbeitsweisen zum Erfolg führen werden. In den Feldern IT-Infrastruktur und Data Analytics gut aufgestellt zu sein, befähigt Unternehmen, Volatilitäten zu verstehen und kurzfristig zu reagieren. BVL.digital und die Frankfurt University of Applied Sciences haben Entscheider zu den Erfolgsfaktoren resilienter Wertschöpfungskette befragt und herausgefunden, dass digitale Unternehmen besser durch die Krise kommen und somit resilienter sind. Dazu passt, dass 76 Prozent der Befragten angaben, die Corona-Krise habe den Digitalisierungsprozess in ihrem Unternehmen beschleunigt.

Um die Resilienz weiter zu stärken, steht in Industrie und Handel die Verbesserung des Informations- und Planungsprozesses mit den Partnern der Supply Chain ganz oben auf der Prioritätenliste, was wiederum eine Stärkung der Logistik mit sich bringt. Einige Logistikdienstleister werden den Charakter von Softwareunternehmen annehmen und Plattformen betreiben. Andere werden sich auf physischen Transport und Lagerung konzentrieren, dabei aber von der digitalen Steuerung der Prozesse profitieren.

Sehr bald dürfte sich dies im Handel bewähren. Kontaktbeschränkungen, Lockdowns und in der Folge stark verändertes Kundenverhalten haben die strukturellen Veränderungen der Handelslandschaft stark beschleunigt. So wird intelligente Logistik zum Wettbewerbsvorteil in einer Handelslandschaft, in der Online- und Offline-Angebote systematisch strukturell verbunden sind. Der Store ist in der Regel schneller als das Fulfillment-Center. Das Kaufhaus liegt im Schnitt näher bei den Kunden als das Auslieferungslager. So sind zum Beispiel 80 Prozent der Haushalte von den Häusern der Galeria Karstadt Kaufhof aus in nur 30 Minuten erreichbar. Eine erfolgversprechende Option für den Handel dürften also kooperativ gestaltete integrierte Modelle sein – wie sie in Deutschland beispielsweise von Zalando praktiziert werden. Und die Logistik, die bei dieser Transformation eine entscheidende Rolle spielt, muss sich auf eine Dezentralisierung ihrer Lagerflächen sowie kleinteiligere, kundenindividuellere Transporte einstellen.

Nun müssen die Erkenntnisse genutzt und erkannte Schwächen in Stärken verwandelt werden. Denn die Herausforderungen, die uns schon vor der Corona-Pandemie in Atem gehalten haben, sind alle noch da. Sie wurden durch Besonderheiten der Krise nur überdeckt: Der Brexit und dessen immer deutlicher spürbaren Folgen, zunehmende nationale Egoismen, der demographische und der klimatische Wandel und die Notwendigkeit, nachhaltig zu handeln. Die Welt hat sich verändert. Um die Führungsrolle zu halten, müssen wir uns weiter entwickeln.

QUELLE: LOGISTIK express Ausgabe 3/2021

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